Welchen sachlichen Grund könnte es geben, mit derartigen Fotos das Da-Sein, das Da-gewesen-Sein nicht bloß zu zeigen, sondern auch zu reflektieren? – Unter den vielen möglichen Gründen schien mir eine leicht verrätselte Orientierungsangabe am attraktivsten zu sein. Einerseits wegen der mit ihr verbundenen Ironie, andererseits aber auch wegen des ästhetischen Phänomens der Monochromie, die ja, wie gesagt, in der Natur vorkommt. Man muss nur dagewesen sein und geschaut und gedacht haben.
»Hic fuit« – im übertragenen Sinn kann man dieses minimalistische Epigramm Till Eulenspiegels als »hier bin ich gewesen« ins Deutsche bringen. Oder – mit anderer Betonung und Satzstellung – als »ich bin hier gewesen«. Übertragen auf das Projekt »Himmelsbeweise«: Damit macht man sein Foto zu einem Dokument. Es wird zu einem Dokument im Sinne der Alltagsgeschichte. Was haben, als Beispiele genommen, all unsere Urlaubsfotos von der Akropolis, vom Eiffelturm, vom Schloss Schönbrunn, von Stränden, Bergen, Kreuzfahrtsschiffen und so weiter gemeinsam? – Sie sind Beweise, dass der·die Fotograf·in dort jeweils anwesend war. Das gilt auch für ungewöhnliche, Authentizität beweisen wollende Urlaubs-Fotosujets wie etwa für den Wiener Naschmarkt, die Wiener Donauinsel, den Wiener Prater. Je ungewöhnlicher und unerwartbarer das Sujet, desto »origineller«. Man wird den Fotos glauben, so hofft der Fotograf. Man glaubt den Fotos vor allem dann, wenn ihr·e Urheber·in Geschichten dazu erzählen kann. Die Voraussetzung dafür ist, dass man als dort anwesend gewesene Person mit dem Hier und Jetzt eine Erfahrung gemacht hat. Was aber ist das, eine Erfahrung »machen«?
Die fünf Strukturmomente von Erfahrung überhaupt
Der Philosoph Günther Pöltner arbeitet in den beiden abschließenden Kapiteln 13 und 14 seines trefflichen Buches »Philosophische Ästhetik«*) sehr genau heraus, was Erfahrung phänomenal und begrifflich ist. Jemeinigkeit, Widerfahrnis, Entbergung, Offenheit, Notwendigkeit der Deutung: Mit diesen fünf Begriffen bezeichnet Günther Pöltner in seinem Werk die Strukturmomente menschlicher Erfahrung überhaupt. Eine Erfahrung ist je meine, mir widerfährt etwas – im Sinne einer Begegnung –, und im Rahmen dieser Widerfahrnis zeigt sich mir etwas, das vorher verborgen war. Das Strukturmoment der Offenheit nimmt hier eine besondere Stellung ein, denn es besagt, dass ich als erfahrender Mensch so offen und frei bin, dass ich mich von dem, das ich gerade erfahre, bestimmen lasse. Solche Offenheit ist also mitnichten ein Merkmal des Unfrei-Seins, sondern eine
Ge-lassenheit zum Sein-können. Das Erfahrene deuten zu wollen schließt den Kreis, sozusagen.
Diese Strukturmomente sind in ihrem Zusammenspiel zugleich die Gründe, warum es so etwas wie Kommunikation gibt; man verspürt die Notwendigkeit, das Erfahrene deutend mitzuteilen – sich selbst und auch Anderen. Man erzählt. Erzählen ist die Grundform des Zusammenspiels dieser Strukturmomente. Man erzählt einander Geschichten, möchte andere Menschen an eigenen Erlebnissen und Beobachtungen teilhaben lassen. Zugleich weiß man, dass das nur eingeschränkt möglich ist, weil dem Gesprächspartner ja die Unmittelbarkeit der je meinen Erfahrung fehlt. Eben deswegen erzählen wir persönlich. Das ist, nebenbei gesagt, der Anfang von Geschichtsschreibung überhaupt. Und: Es sind natürlich auch Fotos, die erzählen können. Aber das ist jetzt ein Gemeinplatz.
Homo narrans
In jeder mündlich oder schriftlich vermittelten Erfahrung steckt ein Mensch, der erzählt. Genau das gilt auch für Bilder, eben auch für Fotos, und zwar nicht nur dann, wenn sie sich auf räumlich-zeitlich eng eingrenzbare Ereignisse dokumentierend beziehen: Auf die Anwesenheit des Menschen im Hier und Jetzt an einem bestimmten Ort. Die Ironie des Verfahrens, das dem Concept-Art-Projekt »Himmelsbeweise« zugrundeliegt, besteht darin, dass der jeweilige Ort zwar exakt bestimmt – und somit konkret – ist (die Koordinaten!), aber zugleich und letztlich abstrakt bleibt (der amorphe Himmel!). Man muss dann halt – falls Interesse besteht – unter Zuhilfenahme aktueller technischer Möglichkeiten nachschauen, um sich zu orientieren, man muss recherchieren. Denn wie der Himmel ausschaut, das weiß ich ja eh, ich erfahre das täglich. Insoferne bin ich zu jeder Zeit und an jedem Ort über mich, mein Leben, mein Erfahren orientiert.
Sonne, senkrecht
Zum Schluss ein Beispiel. Im November des Jahres 2014 verbrachte ich einige Zeit in Brasilien. Dort stand der Sommerbeginn kurz bevor, das heißt, über dem südlichen Wendekreis steht am 21. Dezember die Sonne zu Mittag senkrecht über der Erdoberfläche. Ich war am 20. November in Porto Seguro am Atlantik, das ist im Bundesstaat Bahia und knapp nördlich des südlichen Wendekreises. Die Sonne stand also gerade senkrecht über Porto Seguro, mittags. Wie so etwas aussehen kann, zeigt das hier beigefügte Foto.
Für einen in Europa lebenden Europäer, der aus seinem Alltag eine senkrecht über ihm stehende Sonne nicht kennt, war diese simple Widerfahrnis eine absolut ungewöhnliche Erfahrung, weil sie ein noch nie gekanntes Raum- und Lichterlebnis erzeugt hat: Du wirfst keinen Schatten, denn der ist immer unter dir, du musst ihn suchen, wenn du ihn sehen willst. Du musst hinunterschauen, über dir das Firmament – und du erkennst: Hier bist du jetzt. Hic sum – an einem jener Orte, wo die Sonne senkrecht steht. Das ist wert, gezeigt und erzählt zu werden.
Der Podcast dieses Kapitels
Fußnote:
*) Günther Pöltner: Philosophische Ästhetik, Stuttgart: Kohlhammer 2008, insbes. 221–225.